von Stefanie Lüssenheide
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9. November 2022
Ein Schild aus Holz mit diesem Spruch habe ich gesehen und intuitiv genickt. „Es ist okay, nicht okay zu sein.“ Ja, so fühle auch ich mich gar nicht so selten. Und es gibt eine Sache, die mir vor allem in sozialen Medien tierisch auf die Eier geht: „Es gibt nur eine gute Haltung und das ist die Positive.“ Ja: Positives Denken ist eine Superkraft. Wir können wesentlich mehr erreichen, indem wir unseren Fokus stärker auf gute Dinge lenken, an uns und unseren Erfolg glauben, Sätze hinterfragen, die uns täglich bremsen. „Sei zufrieden mit dem, was du hast.“ „Du wirst es nie schaffen.“ „Du bist nicht (gut) genug.“ Und, sollte sich dennoch Erfolg einstellen: „Du hast das doch gar nicht verdient.“ Diese Liste könnten viele von uns vermutlich lange weiterführen. Auch das macht mich fertig: die ständige Fixierung auf das Negative, auf Fehler, Makel und Defizite. Im Berufsleben kennen wir das vermutlich alle irgendwie. Und wer Kinder hat, weiß: Du liegst für mindestens die Hälfte der Umgebung eh falsch, egal was und wie du es machst. Dann erst unser Körper: Selbstoptimierung, bitte! Statt daran zu arbeiten, was wir können und lieben, sollen wir vor allem Schwächen ausmerzen. Doch dabei können wir bestenfalls gut werden, aber vermutlich nie herausragend und noch viel weniger glücklich. Mindestens ebenso schädlich wie die Fixierung auf die Dellen am Oberschenkel finde ich aber den Druck, der vom anderen Ende der Skala ausgeht. „Toxic Positivity“ nennt sich das. Nun könnte man sagen: Ist doch nicht schlimm, „no harm done“. Oder? Eben schon. Allzu perfekte Inszenierungen, gerade auf sozialen Medien, sind für viele Menschen schwer zu ertragen. Denn durch dieses „Diktat der positiven Haltung“ überträgt sich schnell etwas ziemlich Blödes: Druck. Und das Gefühl von Schuld und Versagen. Und damit ein noch schlechteres Gefühl. Egal, wie es bei anderen scheinen mag: Das Leben besteht nicht immer aus Eis mit Erdbeeren mit Schocki. Bei grundsätzlich Gesunden nicht und gleich gar nicht bei Menschen, die an physischen oder psychischen Erkrankungen leiden, schwierige Erfahrungen gemacht oder eine toughe Zeit durchlaufen haben – oder mitten drin stecken. Dann kommt so ein: „Ja logisch, dass es nicht klappt, so negativ, wie du bist“, sagen wir, semi-schön daher. Doch niemand ist immer positiv. Nicht mal die, deren positive Vibes omnipräsent sind. Ja, es gibt Menschen, die sind es oft – teils sogar trotz widriger Umstände. Andere hadern gefühlt permanent. Wir sind alle verschieden in unseren Grundhaltungen. Und egal, wie intensiv wir an uns arbeiten: Das Leben kann hart sein. Manchmal auch über weite Strecken. Und ich selbst bin dann glücklicher, wenn mich die Botschaft erreicht: „Es ist okay, einfach mal nicht okay zu sein.“ Für alle, die das gerade brauchen: Ihr seid nicht allein. Wichtig – es geht nicht darum, mich gehen zu lassen. Ich finde, wann immer wir es können, sollten wir für unser Glück kämpfen, irgendwann wieder aufstehen und es neu versuchen. Das bedeutet, dass wir uns gelegentlich auch selbst unbequem werden müssen, falls und idealerweise bevor wir es uns in unserem Leid allzu bequem einrichten. Denn damit schaden wir uns nachhaltig. Ein Indiz könnte sein, dass ich mich bedeutend häufiger „nicht okay“ fühle als „okay“ – und zwar vor allem gemessen an unserem eigenen Normalzustand. Sobald ich den Eindruck habe, es belastet mich und nimmt überhand, ich bin nicht mehr zu Hause in meinem Gefühl, ist es vielleicht eine gute Zeit zu handeln. Je nach Situation, eigenen Möglichkeiten und Ausmaß kann ich selbst Maßnahmen einleiten um Kraft zu tanken und meine Seelenbatterie wieder aufzuladen. Oder ich hole mir Unterstützung. Im Falle ernster Erkrankungen sollten das unbedingt psychologische Fachkräfte sein, etwa Psychotherapeuten! Fühle ich mich grundsätzlich psychisch gesund, kann ich bewusst positive Gefühle tanken – Dankbarkeit ist etwa eine mega Kraft. Auch Achtsamkeit kann wirklich helfen, immer auch: Natur. Und ansonsten? Whatever floats your boat: eine kleine Auszeit, mich mit lieben Menschen treffen. Ein Buch. Bewegung… Den Blick auf das Gute lenken, kann vieles verändern. Aber wenn es heute nicht okay ist, hilft vielleicht, das anzunehmen: Ich bin nicht okay. Und heute ist ein verdammt guter Tag für schlechte Laune.